21. Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung am 1. März 2018
Tagesordnungspunkt 9: Schluss mit der Vertreibung Obdachloser
Stadtverordnetenvorsteher Stephan Siegler:
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9., Vertreibung Obdachlose, auf. Wir behandeln die Vorlage NR 483 der LINKE.-Fraktion mit dem Betreff „Schluss mit Vertreibung Obdachloser!“. Die LINKE.-Fraktion hat den Antrag zur Tagesordnung I gestellt.
Ich mache darauf aufmerksam, dass die Ausschüsse für Recht, Verwaltung und Sicherheit sowie für Soziales und Gesundheit empfehlen, die Vorlage NR 483 um eine Runde zurückzustellen. Dennoch soll die Vorlage heute zur Aussprache kommen. Ich nehme an, es gibt Wortmeldungen, zumindest von der LINKEN. Der sind die Wortmeldezettel ausgegangen, aber Herr Müller, Sie haben das Wort. Bitte schön!
Stadtverordneter Michael Müller, LINKE.:
Ja, vielen Dank, Herr Vorsteher, für Ihr Verständnis,
sehr geehrte Damen und Herren!
Die Debatte um Obdachlosigkeit und Barverwarnungen verkennt bislang, unserer Meinung nach, den zentralen Kern und die politische Herausforderung dieser Sache. Es geht um die wachsende Spaltung der Gesellschaft zwischen Arm und Reich. Die Armut, die täglich sichtbar wird, und leider auch die Gleichgültigkeit, die Einzug hält in viele Köpfe. Wir dürfen es jedoch nicht zulassen, dass uns das Schicksal von Menschen, die obdachlos sind, egal ist.
Leider ist es auch so, dass die Lebensverhältnisse von Obdachlosen und ihre Erfahrungen von Repression – wenn überhaupt – durch Außenstehende hörbar werden. Dabei ist es doch so, dass Obdachlose das lebendige, das öffentliche Bild der Armut in unserer Gesellschaft darstellen. Weil wir es oft nicht ertragen können, dass diese Gesellschaft mit all ihrem Reichtum auch systematisch Armut produziert, verdrängen wir mit diesem Widerspruch zugleich auch diejenigen Menschen, die ihn verkörpern.
Was in der Debatte hier im Römer in der vergangenen Plenarsitzung, aber auch heute bislang immer im Vordergrund steht, ist unserer Meinung nach eher die Kriminalisierung von Obdachlosigkeit, als die Bekämpfung der Ursachen. Ist es nicht so, dass Ihre Devise so schlicht wie unsozial ist, dass die sichtbaren Symptome sozialer Missstände doch eher aus dem Sichtfeld einer finanzkräftigen Öffentlichkeit verschwinden sollen? Armut wird viel zu oft als störend empfunden und als Ärgernis im öffentlichen Raum. Unsere Antwort als LINKE darauf ist ganz klar, bekämpfen Sie endlich Armut und nicht die Armen in dieser Stadt, meine Damen und Herren.
Barverwarnungen, allein schon dieser Begriff bedeutet doch nichts weniger, als den Ärmsten der Armen noch das wenige abzuknöpfen, was sie haben. Dabei haben wir als LINKE doch viele Vorschläge unterbreitet, die Sie leider Gottes bislang nicht aufgegriffen haben. Wir hatten Vorschläge unterbreitet für ein Boardinghaus, das wäre eine sinnvolle Initiative. Warum beschäftigen wir uns nicht mit dem Ausbau von psychosozialen Hilfseinrichtungen? Warum stellen wir Etatberatungen nicht viel häufiger unter die Prämisse, wie verhindern wir soziales Elend in dieser Stadt, und warum gibt es eigentlich auch nicht endlich einen Reichtumsbericht in dieser Stadt? Weil wir, wenn wir über Armut reden, zugleich immer auch über Reichtum reden müssen, meine Damen und Herren.
(Beifall)
Deshalb fordern wir den Magistrat auf, die Praxis von Barverwarnungen endlich und umgehend zu beenden. Und Herr Frank, es ist auch irrelevant, wenn Sie sagen, die Zahl von Barverwarnungen, die Sie aussprechen, ist vielleicht gering und es ist irrelevant, wenn Sie es als das letzte Mittel darstellen. Wir erwarten hier von Ihnen ein konsequentes Handeln, beenden Sie diese Praxis, denn die Repression gegen die pure Anwesenheit von Obdachlosen im öffentlichen Raum grenzt diese nur weiter aus. Das, meine Damen und Herren, erinnert doch eher schon an die Zero-Tolerance-Politik in den USA. Auch deshalb muss die Praxis beendet werden. Insgesamt fehlt in dieser ganzen Debatte doch die grundsätzliche Frage und die Reflexion über die gesellschaftlichen Verhältnisse, die erst dazu führen, dass Menschen obdachlos werden.
Herr Frank und meine sehr geehrten Damen und Herren, darauf müssen wir den Fokus legen und uns nicht mit Barverwarnungen und Verordnungen beschäftigen und mit Satzungen, die wir einhalten. Über die strukturellen Ursachen von Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit könnte man jetzt abendfüllend sprechen. Ich will hier nur einiges nennen, weil das viel zu selten bislang in den Debatten fiel und wahrscheinlich auch in den Ausschüssen nur schwer oder kaum zur Sprache kam. In erster Linie ist es doch die Prekarisierung von Arbeit, es sind Niedriglöhne, es ist Hire and Fire, die dazu führen, dass Menschen schnell in die Arbeitslosigkeit geraten und die Arbeitslosigkeit heute oft der Fahrstuhl ist, der direkt nach unten führt. Eben weil der Sozialstaat unterhöhlt wurde, weil es für viele Neoliberale ebenso ist, dass sie den Sozialstaat eher als Hemmschuh betrachten in ihrer neoliberalen Logik, die sie verfolgen, und als Ballast, den es eben nicht mehr gilt zu verteidigen.
Es ist also die Durchlässigkeit des sozialen Netzes, die letztlich dazu führt, das Obdachlosigkeit wahrscheinlich für viel mehr Menschen, als wir uns das jetzt gerade vorstellen, viel schneller Realität werden kann, als es früher der Fall war. Es hängt aber auch damit zusammen, dass sich der Staat sukzessive aus dem sozialen Wohnungsbau zurückgenommen hat. Für viele wird es eben durch Arbeitslosigkeit schwieriger, eine Wohnung zu bezahlen, dann wird ganz schnell auch die Gefahr virulent, dass man eben seine Wohnung verliert, und schneller, als es eben einem lieb sein kann, Menschen auch obdachlos oder wohnungslos werden.
Jetzt schauen wir uns einmal an, wie sich vielleicht auch die Obdachlosen fühlen. Ich erlaube mir jetzt ein bisschen auch mich einmal reinzuversetzen in die Menschen, die obdachlos sind. Da ist es auch so, dass die Selbstverschuldungsthese, die viel zu oft in unserer Gesellschaft Anwendung findet, auch hier internalisiert wurde. Denn den meisten Obdachlosen ist ihre Situation peinlich, aus Scham vermeiden sie den Gang zu Ämtern, den Hilfegesuch bei Verwandten oder auch den Gang in eine Hilfseinrichtung. Viele wollen sich ihre Notlage auch gar nicht eingestehen, sie verdrängen den Ernst der Lage vielleicht oder hoffen, dass dann alles sich von selbst löst.
Ist es jetzt so, dass man dann sagt, na ja, sie sind selbst schuld, oder wie Herr Schmitt von der CDU, der jetzt leider nicht mehr da ist, behauptet, niemand muss obdachlos sein, es gibt doch für alles und jeden einen Platz, und es ist also selbst verschuldet, wenn man obdachlos ist? Dann sage ich, nein, das ist die falsche Antwort. Denn es ist doch Ausdruck dieser Leistungsgesellschaft, in der wir uns befinden, dass man sagt, man setzt auf Individualisierung, auf Selbstoptimierung und letztlich auf Konkurrenz, die auch immer dazu führt, den solidarischen Gedanken in den Hintergrund zu rücken. Das spüren Obdachlose viel stärker in unserer Stadt als wahrscheinlich wir alle hier im Raum, meine Damen und Herren.
Was ich ganz befremdlich finde, die CDU?Fraktion hat es heute wieder wiederholt, indem sie uns als LINKE vorgeworfen hat, das Thema überhaupt hier reinzutragen, dass wir quasi das Thema Barverwarnung und damit Obdachlosigkeit ansprechen, wäre „böswillig“. Also, ich kann es gar nicht glauben, wie der Kollege Schmitt zu dieser Einschätzung kommt, denn es ist doch so, dass wir damit nur die soziale Realität ansprechen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU, wenn Sie so die gesellschaftliche Realität verkennen, dann sollten Sie sich einmal überlegen, wofür das .C. in Ihrem Parteinamen eigentlich steht. Weil christlich kann ich das wirklich nicht mehr finden, wenn man sich so mit Obdachlosigkeit beschäftigt, weil es wirklich meilenweit weg ist vom Gebot der Nächstenliebe, das Ihnen wahrscheinlich genauso wenig fremd ist wie mir als Katholik, meine Damen und Herren von der CDU.
Die Botschaft ist doch ganz eindeutig, die hier artikuliert wird von manchen, dass man sagt, ihr gehört hier nicht hin. Herr Frank, in der Dezembersitzung haben Sie, ich habe nachgeschaut, gesagt, Barverwarnungen seien eben notwendiges letztes Mittel in dieser Frage, weil die Obdachlosen sich nicht so verhalten, wie es unsere Werte vorsehen. Dann frage ich Sie noch einmal, was für Werte führen Sie denn da in das Feld? Was ist es denn eigentlich für eine schräge Debatte, wenn Sie hier mit Werten kommen, die scheinbar von einer Minderheit sind, die nicht akzeptiert werden, wenn gleich man doch in der vorigen Debatte vom großen „wir“ gesprochen hat? Dann würde ich schon sagen, wenn Sie das .wir. ernst nehmen, dann zählen die Obdachlosen genauso dazu. Und wenn man das „wir“ groß schreibt, dann sollten Sie bitte schön nicht mehr von irgendwelchen Werten sprechen und dass man denen deswegen wirklich den letzten Cent noch aus ihren Bechern rausnehmen könnte, das ist armselig, meine Damen und Herren!
(Beifall)
Denn grundsätzlich geht es bei der Frage Obdachlosigkeit eigentlich auch um die Frage, wem gehört denn der öffentliche Raum, in dem sich die Obdachlosen bewegen. Ist es nicht eher so, dass man mittlerweile fast schon meint, na ja, wer dem gewünschten Vermarktungshabitus entspricht, der darf da noch sein, die anderen geraten viel zu schnell ins Fadenkreuz der Ordnungs- und Sicherheitsbehörden, egal was sie tun, ob sie in der Öffentlichkeit Alkohol trinken, ob sie nächtigen, ob sie sich aufhalten. Denn während der öffentliche Raum für uns meistens eigentlich nur ein temporärer Raum ist, wo wir uns eine gewisse Zeit aufhalten, ist doch der öffentliche Raum für jemanden, der obdachlos ist, etwas ganz anderes, meine Damen und Herren. Für denjenigen ist er viel mehr. Er ist die Schlafstätte, er ist der Waschraum, er ist Begegnungsstätte und er ist Zuflucht. Er ist für viele Menschen, die obdachlos sind, der einzige Ort, auf den sie immer zurückgeworfen werden, der ihnen vielleicht auch Halt gibt, wenngleich es für uns unvorstellbar ist, dass jemand Halt findet, wenn er sich vielleicht in der B-Ebene befindet.
Deswegen müssen wir uns viel eher mit der Frage beschäftigen, wollen wir den öffentlichen Raum wirklich für alle, wollen wir eine Stadt für alle, dann gehören Obdachlose, die da sind, eben zum Stadtbild dazu und sollten nicht mit Barverwarnungen gegängelt und letztlich immer noch weiter hinausgedrängt werden. Bestes Beispiel ist auch der Kaisersack, wo man das auch nicht will, weil der angeblich das Schaufenster der Stadt ist. Aber was ist es denn dann, nichts anderes als eine Verdrängung raus aus der Innenstadt, möglichst unsichtbar machen und Sie glauben dann, dass das Problem verschwindet, das ist doch die falsche Antwort.
Ich finde, wir müssen uns abschließend ein paar Fragen stellen. Wie können wir den öffentlichen Raum so schaffen, dass er weder ausgrenzt noch verunsichert? Welche Regeln sind nötig, dass der öffentliche Raum wirklich für alle gilt, und wie lassen sich Konflikte vernünftig lösen? Das, meine Damen und Herren, erfordert aber gegenseitigen Respekt und auch eine Beziehung auf Augenhöhe. Ich glaube, bei der Frage im Umgang mit Obdachlosigkeit fehlt es vielen hier im Haus an der nötigen Augenhöhe.
Vielen Dank!
(Beifall)
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