28. Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung am 8. November 2018
Tagesordnungspunkt 6: Einbringung des Etats 2019. Stellungnahmen der Fraktionen
Stellvertretender Stadtverordnetenvorsteher
Ulrich Baier:
Die nächste Wortmeldung kommt von Frau Stadtverordneter Pauli, der Fraktionsvorsitzenden der LINKEN. Bitte!
Stadtverordnete Dominike Pauli, LINKE.:
Sehr geehrter Herr Stadtverordnetenvorsteher,
sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Becker, Sie haben darauf verwiesen, dass Sie als stolzer Frankfurter heute an den Tag im Jahre 1909 zurückdenken, an dem die Festhalle eröffnet wurde. Mit dem stolzen Frankfurter tue ich mir ein bisschen schwer, jedenfalls in Bezug auf meine Person. Ich bin Höchsterin, wir haben die Eingemeindung 1929 noch immer nicht ganz überwunden, aber als stolze LINKE möchte ich auch gerne 100 Jahre zurückdenken und würde Ihren Blick gerne kurz auf den November 1918 und die Novemberrevolution lenken.
Der Frankfurter Arbeiter- und Soldatenrat veranstaltete am 11. November 1918 im Ostpark eine Massendemonstration und einen Umzug und übernahm anschließend die Universität. Am folgenden Tag ließ er in der Stadtverordnetenversammlung eine Erklärung verlesen, die feststellt, dass „der Rat die höchste Vertretung der Stadt ist, er ist eingesetzt von dem revolutionären Volke und übt seine Macht zugunsten des schaffenden Volkes aus.“ Die Stadtverordnetenversammlung anerkannte den Arbeiter- und Soldatenrat als höchste Vertretung der Stadt. Auf dem Rathaus wurde die rote Fahne gehisst, die städtischen Kolleginnen und Kollegen konnten ungehindert weiterarbeiten. Wenn Sie sich näher mit der Materie beschäftigen wollen, empfehle ich Ihnen die aktuelle Ausgabe der Seniorenzeitschrift, sie hat sich nämlich erfreulicherweise dieses Themas angenommen. Das fand ich sehr interessant.
Die Einleitung wird Sie vielleicht ein bisschen verwirren, meine Damen und Herren, aber angesichts des 100-jährigen Jubiläums der Novemberrevolution scheint mir der Bezug dazu spannender zu sein, als auf die übliche Schwarzmalerei des Kämmerers bezüglich des Haushalts einzugehen. Denn diese ist ja nichts anderes als die sich wiederholende Ouvertüre für Einsparungen bei Personal und Sozialem. Trotz des Mottos „sozial und stark“ haben wir im Sozialhaushalt nicht wenige Einsparungen, und das mit dem Personal ist auch immer noch nicht so, wie es sein sollte. Herzensangelegenheiten und Prestigeobjekte dürfen dagegen kosten, was sie wollen. Ãœber das Stadthaus, das dazu gehört, haben wir vorhin schon lange gesprochen.
Ich möchte hier und heute lieber auf zwei zentrale Forderungen des Arbeiter- und Soldatenrates von 1918 eingehen, die nach wie vor aktuell sind: einmal nach der Erhöhung des Arbeitslosengeldes und die nach der Arbeitszeitverkürzung.
Zur Arbeitszeitverkürzung: Das war 1918 natürlich ein großes Problem, aber bis heute kämpfen Beschäftigte und ihre Gewerkschaften noch immer darum, die erreichte Arbeitszeit nicht dem Profit opfern zu müssen, den Rollback zu verhindern. Aktuell ist es die NGG, die auf ihrem letzten Gewerkschaftstag es ein klares Bekenntnis zum Acht-Stunden-Tag gab. Ich hätte nie gedacht, dass es noch einmal nötig sein würde, dass eine Gewerkschaft in Deutschland so eine Erklärung abgibt. Der NGG-Chef Guido Zeitler kündigte entschiedenen Widerstand gegen die geplante Bundesratsinitiative der grün-schwarzen Landesregierung von Baden-Württemberg zu einer Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes an. Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband wittert nämlich die Chance, die Zehn-Stunden-Obergrenze bei der täglichen Arbeitszeit zu streichen und Eingriffe in die Ruhezeiten zu wagen. Das sei mit der NGG doch nicht zu machen. Das ist eine Problematik, die Frankfurt durchaus stark betreffen wird.
Die zweite zentrale Forderung, die nach der Erhöhung des Arbeitslosengeldes, galt damals als eines der wichtigsten Mittel zur Bekämpfung der Armut. Damals war Nachkriegszeit mit allem Schlimmen, was damit verbunden war. Heute haben wir ganz andere Zeiten. Wirtschaftlich läuft es sehr gut. Unternehmen erzielen riesige Gewinne. Das lässt sich nicht zuletzt an den hohen Einnahmen durch die Gewerbesteuer in Frankfurt ablesen. Sie selbst, Herr Becker, rechnen mit einem Rekord für das nächste Jahr bei diesen Einnahmen, mit circa 1,94 Milliarden Euro. Das wären 50 Millionen Euro mehr als im laufenden Jahr. Vor diesem positiven wirtschaftlichen Hintergrund ist es sehr interessant zu lesen, was Frau Dr. Dorothee Spannagel vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung in der aktuellen Verteilungsstudie gerade wieder feststellen musste, nämlich dass die Armut in Deutschland wächst und sich verfestigt, genauso wie der Reichtum, und das auch in Frankfurt. Die Studie spricht von einer immer weiter gehenden Polarisierung der Einkommen. Die mittleren Einkommen schrumpfen, der Anteil der reichen Haushalte wächst etwas, und der Anteil der armen Haushalte nimmt deutlich zu. Seit den 1990er-Jahren steigt die Armut kontinuierlich stark an, nämlich von elf Prozent auf 16,8 Prozent im Jahre 2015. Diese Entwicklung hat gravierende Auswirkungen. Das ist auch in Frankfurt zu spüren. Laut Spannagel hat die Stabilität der Gesellschaft ihr Fundament im Gründungsversprechen der deutschen Demokratie, dass sich jede und jeder kraft eigener Leistung, flankiert von sozial- und bildungspolitischen Maßnahmen, einen Platz in der Mitte der Gesellschaft sichern kann. Doch die Realität sieht ihrer Ansicht nach anders aus.
Sie sagt weiter: „Nicht nur geht die Einkommensschere auf, auch die Lebenswelten von Armen, Mittelschicht und Reichen fallen immer weiter auseinander.“ Wenn Sie sich den Segregationsbericht der Stadt Frankfurt ansehen, werden Sie feststellen, dass es stimmt. In Frankfurt ist die Segregation mittlerweile räumlich deutlich ablesbar. Dieser Prozess beschleunigt sich, wenn die soziale Mobilität weiter sinkt, weil auf die Dauer beispielsweise die soziale Mischung von Wohnvierteln abnimmt. „Nur wenn es gelingt, verfestigte Armut aufzubrechen und zu verhindern, dass sich die Reichen von der Gesellschaft absetzen, gelingt es auch, jene gut integrierte gesellschaftliche Mitte zu erhalten und zu stärken, auf der die Stabilität unserer Demokratie beruht“, betont Spannagel.
In der Studie können Sie, meine Damen und Herren, auch nachlesen, was zu tun ist – auch auf kommunaler Ebene. Es fängt bei der Bildung an. Je höher die Bildung, desto höher die Wahrscheinlichkeit oder die Hoffnung auf eine gute Arbeit mit gutem Einkommen. Die meisten Menschen in dauerhafter Armut haben niedrige Abschlüsse. Diese wenig überraschende Erkenntnis ist eindeutig auf die starke soziale Segregation in unserem überkommenen dreigliedrigen Schulsystem zurückzuführen, das Kinder wohlhabender Herkunft vor armen Kindern begünstigt. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass sich auf diese Weise Armut und Reichtum vererben. Um diesen Circulus Vitiosus zu durchbrechen, muss die Bildungsungleichheit reduziert werden, müssen wir auch in Frankfurt Bildungseinrichtungen haben, die Kinder aus benachteiligten Familien von frühester Kindheit an fördert. Wir brauchen die besten und schönsten Schulen in den ärmsten Stadtteilen. Wir haben fünf Gymnasien im Westend und keine weiterführende Schule in Zeilsheim, Sindlingen oder in Nied.
(Beifall)
Letztendlich soll die Begabung über den Abschluss entscheiden und nicht die Abstammung oder der Geldbeutel der Eltern.
Weitere Stichworte sind Alleinerziehende und Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Alleinerziehende, natürlich immer noch überwiegend Frauen, bilden die Gruppen mit dem höchsten Armutsrisiko. Es gibt immer noch riesige Probleme bei der Betreuung von Schulkindern. Das ist kein Geheimnis. Es gibt immer noch Menschen, fast alles Frauen, die ihre eigene Arbeitsstelle nicht aufgeben wollen oder können, aber ihr eigenes Gehalt dafür ausgeben müssen, um eine private Kinderbetreuung zu finanzieren, weil sie noch keinen Betreuungsplatz bekommen haben und die Zwischenzeit überbrücken müssen. Dazu kommt, dass Frauen immer noch schlechter bezahlt werden als Männer in gleichen Berufen.
Schon sind wir wieder beim Arbeiter- und Soldatenrat von 1918, denn ein Mitglied dieses Rates war Toni Sender, die übrigens damals außer dem Wahlrecht für Frauen auch gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit gefordert hat. Damals wie heute ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf die Voraussetzung, der Armutsfalle zu entgehen. Deshalb ist der Ausbau der Kinderbetreuung eines der wichtigsten Politikfelder in dieser Stadt.
Sie sehen, meine Damen und Herren, die Forderungen aus dem Jahr 1918 sind nach wie vor aktuell. Sicher war die Zeit damals viel dramatischer als heute, aber dass in einer so reichen Stadt wie Frankfurt ein Drittel aller Familien und jedes fünfte Kind von Armut bedroht sind, zeigt, dass hier noch viel zu tun ist, und das trotz einer SPD in der Stadtregierung, die immer davon spricht, dass es jetzt eine sozialdemokratische Handschrift in der Frankfurter Politik gibt. Davon ist bis jetzt nicht viel zu merken. Ich nehme an, das stört einfach die Koalitionsdisziplin.
100 Jahre sind seit der Novemberrevolution vergangen, und noch immer kämpfen wir gegen Armut in einem reichen Land, in einer sehr reichen Stadt, deren Stadtregierung sich insgesamt mit Sozialem schwertut.
Ein paar Beispiele. Stichwort Seebrücke: Hier konnten Sie sich leider doch nicht zu der von den LINKEN vorgeschlagenen und von einem sehr breiten Bündnis der Stadtgesellschaft getragenen humanitären Geste durchringen. Stattdessen haben Sie uns einen wachsweichen Minimalkompromiss präsentiert, dessen kleinsten gemeinsamen Nenner die CDU definiert hat. Vielen Dank!
Das nächste Stichwort: Mietenexplosion. Auch hier viel Gerede und wenig Handlung. Zuletzt der Verzicht auf das Vorkaufsrecht bei der Liegenschaft in Bockenheim in der Adalbertstraße. Hier hat die Stadt dem Investor kampflos das Feld überlassen, und der kann jetzt seine Profitmaximierung ungebremst ausleben. Besonders übel daran ist, Herr Schneider, dass die rechtliche Einschätzung des Sachverhaltes seitens des Planungsdezernates zu einer Empfehlung für die Ausübung des Vorkaufsrechts geführt hat. Aber Sie, Herr Schneider, haben leider vor dem Investor gekniffen.
(Beifall)
Wahrscheinlich waren Sie von den vielen peinlichen Pannen bei den letzten Wahlen zu verunsichert, um wirklichen Widerstand zu leisten.
(Beifall)
Diese Regierungskoalition ist eine des Stillstands, der gegenseitigen Blockade, der bis in die Öffentlichkeit reichenden Streitereien und Eifersüchteleien. Das kann Mensch auch an den wenigen, nicht sehr zahlreichen Anträgen ablesen, die Sie gemeinsam auf den Weg gebracht haben. Und, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, wenn Sie zwischen den internen Streitigkeiten noch Zeit haben, lassen Sie sich von Fraport auf der Nase herumtanzen, während die in Trebur den Wald roden. Das sei vor allem den GRÜNEN gesagt.
(Beifall)
Zurück zur Novemberrevolution. Sie war ein Aufstand für eine gerechte Gesellschaft, gegen den Krieg und für die Demokratie. Natürlich haben die Mächtigen nicht einfach zugeschaut, sie haben zurückgeschlagen – bis zur Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.
Meine Damen und Herren, morgen ist der 9. November, Gedenktag für ein schreckliches Ereignis, die Reichspogromnacht. Herr Stock, Sie haben dafür sehr einfühlende Worte gefunden. Während dieser Novemberpogrome wurde in Frankfurt zum Beispiel die Synagoge in Höchst auf dem Ettinghausenplatz zerstört. Daher ist es sehr schwer erträglich, dass eine Partei wie die AfD, die in ruhigfestem Schritt mit Rechtsradikalen und Nazis demonstriert, ihre Wahlpropaganda auf dem Ettinghausenplatz verbreitet hat. Höchster Bürgerinnen und Bürger hat das so sehr empört, dass der Ortsbeirat für den Frankfurter Westen eine einstimmige Resolution dagegen verfasst hat, die öffentlich ausgehängt wird. Darauf bin ich sehr stolz, meine Damen und Herren. Wir haben zwar nicht die Dreißigerjahre, aber „wehret den Anfängen“ ist so aktuell wie lange nicht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
(Beifall)
Hier können Sie die Rede als PDF-Datei herunterladen.