Wir wollen eine zukunftsorientierte Sozialpolitik, die deutlich politischer und deutlich selbstbewusster ist

29. Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung am 13. Dezember 2018

Tagesordnungspunkt 5: Wiederwahl des hauptamtlichen Mitglieds des Magistrats

Stadtverordnetenvorsteher Stephan Siegler:

Die nächste Wortmeldung kommt von Frau Pauli von der LINKE.-Fraktion. Bitte!

Stadtverordnete Dominike Pauli, LINKE.:

Sehr geehrter Herr Vorsteher,
sehr geehrte Damen und Herren!

Bevor ich auf unsere Wahlentscheidung komme, möchte ich gerne ein bisschen einen politischeren Hintergrund zeichnen. Ich möchte auch in meiner heutigen Rede nicht darauf verzichten, Ihnen einige Worte berühmter Denker in Erinnerung zu rufen, da sie im Wesentlichen bis heute aktuell sind. Wir befinden uns in Großbritannien im Jahr 1864. Ich zitiere mit Ihrer freundlichen Erlaubnis:

„Von 1842 bis 1852 wuchs das steuerbare Landeseinkommen um sechs Prozent. In den acht Jahren von 1853 bis 1861 ist es um 20 Prozent gewachsen. Die Tatsache ist bis zum Unglaublichen erstaunlich. Dieser berauschende Zuwachs von Reichtum und Macht ist ganz und gar auf die besitzenden Klassen beschränkt.“

Das hat der britische Premierminister William Gladstone gesagt. Ich habe das Zitat bei Karl Marx in einer Rede gefunden, die er anlässlich einer Inaugurationsadresse 1864 in London als Quelle zitiert hat. Nachdem sich die SPD heute von uns Rosa Luxemburg ausgeliehen hat, finde ich jetzt hinterher ein Zitat von Karl Marx ganz passend.

Diese Feststellung von William Gladstone ist 150 Jahre her und heute haben wir immer noch ähnliche Verhältnisse, wenn auch zugegebenermaßen auf anderem Niveau. Wir haben, wie damals auch, auf allen Ebenen Rekordeinnahmen. Die Bundesregierung rechnet für das Jahr 2018 mit einem Rekordüberschuss von Bund, Ländern, Gemeinden sowie den Sozialversicherungen von rund 60 Milliarden Euro. In Frankfurt haben wir zum Stichtag 10. Dezember 2018 allein 1,9 Milliarden Euro Gewerbesteuer zu verzeichnen und der Kämmerer spricht von einer guten wirtschaftlichen Lage in dieser Stadt mit stabilen Einnahmen. Wie damals kommt auch heute dieser Reichtum hauptsächlich denen zugute, die eh schon viel haben. Wenn Sie nun, meine Damen und Herren, bei der Bundeszentrale für politische Bildung unter Sozialpolitik nachlesen, finden Sie höchst interessante Erklärungen der Professoren Benz, Huster, Schütte und Boeckh, die sagen:

„In einem sehr umfassenden Sinne geht es um die Ausgestaltung unseres Gemeinwesens und um die Erklärung beziehungsweise Rechtfertigung materieller und immaterieller Verteilungswirkungen. Da hiervon die Lebens- und Teilhabechancen vieler Menschen in unserer Gesellschaft abhängen, wird der Begriff des Sozialen eng mit dem der sozialen Gerechtigkeit verstanden und diskutiert.“

Schauen wir uns nun die materiellen und immateriellen Verteilungswirkungen in unserer Stadt an. Frankfurt rühmt sich gerne des riesigen Sozialetats, der mit 28,6 Prozent der größte Einzelhaushalt ist. Damit werden aber zu 90 Prozent Pflichtaufgaben finanziert. Da bleibt sehr wenig Gestaltungsspielraum für Sozialpolitik, und deshalb wird im Wesentlichen Sozialfürsorge betrieben.

Der Duktus, in dem Herr zu Löwenstein vorhin von Sozialpolitik in Anführungsstrichen gesprochen hat, hat das nochmals gründlich untermauert. Die Spaltung der Gesellschaft in Frankfurt hat sich dagegen verschärft und verstetigt. Trotz sprudelnder Einnahmen sind die Arbeitslosenzahlen nur sehr minimal rückläufig, insgesamt um 0,6 Prozent und bei den Alleinerziehenden nur um 0,5 Prozent. Weil dies trotz guter Konjunktur nicht besser läuft, muss unserer Ansicht nach endlich durch ein kommunales Investitionsprogramm ein viel weitreichenderer Beschäftigungssektor geschaffen werden als es das jetzige Programm des Sozialdezernates macht. Was die Alleinerziehenden anbelangt, die überwiegend immer noch weiblich und statistisch gesehen extrem von Armut bedroht sind, könnte die Stadtverwaltung zum Beispiel Ausbildung in Teilzeit anbieten, eine Chance, die kompatibel mit der Alltagssituation dieser Menschen wäre. Aber trotz Einnahmen auf Rekordniveau sollen auch im Sozialhaushalt Millionen Euro gespart werden. Was ich wirklich vermisse, sind grundlegendere politische Ansätze, die der Spaltung der Stadt entgegenwirken können und die die Zukunft sozialpolitisch gestalten.

Schauen wir uns einmal die Bilanz der Frankfurter Politik der letzten Jahrzehnte an, in der Frau Prof. Dr. Birkenfeld sehr lange verantwortlich war. Was hat die Stadt unternommen, um im Bereich Mobilität einen Ausgleich zu schaffen, damit sich Leute mit wenig Geld den ÖPNV wirklich leisten können und damit mobil sind und nicht nur die Reichen in den SUVs durch die Stadt brettern? In der allerletzten Zeit gab es zugegeben ein paar Maßnahmen, aber über die Jahre hinweg ist der ÖPNV einfach immer nur teurer geworden und damit unbezahlbarer für immer mehr Menschen. Was hat die Stadt unternommen, um die Unterschiede bei der Bildung auszugleichen? Sie hat das fünfte Gymnasium im privilegierten Stadtteil Westend gebaut und immer noch zu wenig in Fechenheim. Was hat die Stadt unternommen, damit die Menschen in den engeren Quartieren nicht immer mehr unter schlechter Luft und den Folgen des Klimawandels leiden wegen der verfehlten Bebauung, wie zum Beispiel unter Überhitzung? Was hat sie gemacht? Sie hat ein paar überteuerte „grüne Wände“ aufgestellt und ansonsten so wenig, dass es als Notbremse zum Dieselfahrverbot kommt. Und was hat die Stadt unternommen, um die Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum sicherzustellen? Darüber streiten wir uns in jeder Sitzung hier im Haus, nämlich so gut wie nichts in all den Jahren, und es ist bis heute noch nicht wesentlich besser geworden.

Wie sieht es also heute in Frankfurt im sozialpolitischen Bereich aus? Da habe ich die Antwort und die Beschreibung bei den GRÃœNEN gefunden, und deshalb zitiere ich jetzt mit Ihrer Erlaubnis:

„Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat, gilt nach der Definition des Statistischen Bundesamtes als armutsgefährdet.“

Schaut man auf die Gehaltszettel der Frankfurterinnen und Frankfurter, wird man feststellen, dass dies auf viele Menschen zutrifft, auf Alleinstehende, die nicht mehr als 917 Euro netto verdienen, auf Alleinerziehende mit einem Kind mit einem Nettoeinkommen unter 1.192 Euro und auf Familien mit einem Nettogehalt unter 2.355 Euro. Vor allen Dingen bei Alleinerziehenden und Rentnern sind diese Grenzen schnell erreicht. Jede siebte Frankfurterin ist in unserer Stadt auf Sozialleistungen angewiesen, mehr als acht Prozent der Seniorinnen beziehen Leistungen zur Grundsicherung und jedes fünfte Kind in Frankfurt ist von Armut bedroht. Der Grund dafür, dass gerade in Frankfurt die Zahl der relativ Armen so hoch ist, ist, dass die Lebenshaltungskosten in unserer Stadt verhältnismäßig hoch sind.

Selbst Durchschnittsverdienerinnen müssen so häufig mit jedem Euro rechnen. Geschrieben haben es die GRÜNEN im Nordend zum OB-Wahlkampf unter dem Titel „Acht Ideen für Frankfurt, Teil 1, Familien unterstützen und Armut bekämpfen“. Leider, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, hat man davon in den letzten Jahren Ihrer Regierungsbeteiligung nichts gemerkt. Das ist aber trotzdem eine treffende Zuschreibung nach 30-jähriger schwarz-grüner Politik in Frankfurt. Für diesen Zustand steht auch die langjährige Sozialdezernentin Birkenfeld in der Verantwortung. Deshalb ist sie für uns nicht wählbar.

(Beifall)

Wir wollen etwas anderes. Wir wollen eine zukunftsorientierte Sozialpolitik, die deutlich politischer und deutlich selbstbewusster ist. Wenn Sie einmal ein Beispiel anschauen wollen, wie so etwas gehen kann, schauen Sie nach Barcelona, dort finden Sie diese sozialpolitischen Impulse. Seit dort die linke Ada Colau Bürgermeisterin ist, wird erfolgreich an dem Konzept einer offenen Stadt als demokratische Revolution gearbeitet. Das bedeutet, die Menschen holen sich die Stadt zurück, und die soll nicht länger nur unter der Prämisse der Verwertungslogik oder fürs Geldverdienen stehen, sondern als Ort des Lebens für alle. Die jetzige Regierungskoalition ist zu so etwas nicht fähig. Aber vielleicht ändern sich die Mehrheitsverhältnisse nach der nächsten Kommunalwahl. Das wäre für die Menschen in dieser Stadt, vor allem für die vielen, die nicht viel Geld haben, von großem Vorteil.

Vielen Dank!

(Beifall)

Hier können Sie die Rede als PDF-Datei herunterladen.

Dieser Beitrag wurde unter Dominike Pauli veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.
Nach oben