35. Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung am 29. August 2019
Tagesordnungspunkt 9: Einsatztruppenversorger „Frankfurt am Main“
Stadtverordnetenvorsteher Stephan Siegler:
Die nächste Wortmeldung kommt von Herrn Müller von der LINKEN.-Fraktion, also einer der beiden anmeldenden Fraktionen. Herr Müller, Sie haben das Wort, bitte schön!
Stadtverordneter Michael Müller, LINKE.:
Herr Vorsteher, vielen Dank,
meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ja, wir sprechen über Solidarität der Städte. Wir müssen über Hilfe in der Not sprechen. Und Gott sei Dank gibt es ein Netzwerk von Kommunen in Deutschland die helfen. Es gibt solidarische Kommunen in ganz Europa und es gibt auch in den Vereinigten Staaten von Amerika – man glaubt es gar nicht – 500 Städte, die sich der Sanctuary-Cities-Bewegung angeschlossen haben, die sich offensiv dagegen wehren, mit der US-Einwanderungsbehörde zusammenzuarbeiten und Menschen ohne Papiere unbürokratisch Hilfe leisten. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Solidarität gibt es weltweit.
(Beifall)
Allerdings müssen wir uns natürlich mit der Realität beschäftigen. Und wie sieht diese Realität denn aus? Viele Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben schlicht vergessen, dass die Menschenrechte das Fundament der Demokratie sind. Und wenn ich mir den heutigen Abend anschaue, glaube ich auch, dass manche hier im Haus noch nie begriffen haben, dass Menschenrechte das Fundament der Demokratie sind, auch das möchte ich Ihnen sagen.
(Beifall)
Die Institution des Asyls ist eine der zentralen zivilisatorischen Errungenschaften. Dennoch erscheint diese nicht mehr unumstößlich. Flüchtlingsabwehr um jeden Preis scheint die neue Losung zu sein. Seenotrettung wird kriminalisiert. Dabei ist doch das Gegenteil richtig. Seenotrettung ist das Gebot der Stunde. Die Zahl hat die Dezernentin dankenswerterweise genannt, es waren über 12.000 Menschen, die zwischen 2015 und 2018 im zentralen Mittelmeer nach offiziellen Angaben ertrunken sind. Diese Zahl der Toten mag für Sie vielleicht abstrakt sein, doch hinter jedem verlorenen Leben steht doch ein Mensch, ein Mensch mit all seinen Leiden, mit seinen Freuden, mit seinen Bedürfnissen und auch mit seinen Wünschen. Ja, hinter jedem Toten steckt ein Leben, das nicht gelebt werden konnte.
Und liebe AfD, mitnichten steckt dahinter eine Person, die vielleicht das Sozialsystem belastet. Es sind Menschen, die vielleicht tatsächlich auch der Kindergärtner Ihrer Kinder geworden wäre oder der Arzt, der Ihnen das Leben rettet. So sieht die Realität doch aus. Hören Sie also auf, hier Menschen zu stigmatisieren und ein Bild zu skizzieren von – Not leidenden Menschen, die nur Ballast sind, das ist grundfalsch.
(Beifall)
Was ich auch sagen will, kaum ein Mensch kehrt doch freiwillig seiner Heimat den Rücken, um dann vor sich am Ufer des Mittelmeers das Massengrab zu erblicken, das er aber überwinden muss, um menschenwürdig leben zu dürfen. Es gibt für ihn nicht die Möglichkeit, ins Flugzeug zu steigen und einfach irgendwohin zu fliegen, das geht nicht. Die Menschen haben keine Wahl. Die Menschen fliehen vor Warlords, sie fliehen vor Kriegen, die auch mit europäischen, ja mit deutschen Waffenlieferungen genährt werden. Und sie fliehen vor Grenzkonflikten auf dem afrikanischen Kontinent, die immer noch von den willkürlichen Grenzziehungen herrühren, die die ehemaligen europäischen Kolonialherren verursacht haben.
(Beifall)
Sie fliehen letztlich auch vor Hunger, der immer auch mit Landgrabbing und billigen Importen von EU-Konzernen sowie EU-Einfuhrzöllen zu tun hat, natürlich auch mit der Ungerechtigkeit des kapitalistischen Systems. Und sie fliehen letztlich auch vor Perspektivlosigkeit, wer mag es ihnen denn verdenken. Doch die Maxime, die sich scheinbar durchgesetzt hat, lautet, wir lösen diese sogenannte Krise, indem wir die Grenzen dichtmachen, indem wir wegschauen, während Menschen ertrinken. Und ich sage Ihnen, dieses Wegschauen ist schlicht unmoralisch, denn auch unterlassene Hilfeleistung ist Mord. Dass sich dagegen Widerstand regt, ist sehr gut, ja es ist großartig. Überall auf dem Kontinent ergreifen Menschen die Initiative. In Frankfurt ergreifen Menschen die Initiative und ihnen gebührt unser Dank, unser ausdrücklicher Dank, meine Damen und Herren.
(Beifall)
Denn was doch tatsächlich durch viele politischen Entscheidungsträger passiert, ist die Seenotrettung aus strategischen Gründen der Abschreckung oder aus fadenscheinigen anderen Gründen abzulehnen oder sie etwa als Protestaktion zu delegitimieren, sie zu verunglimpfen. Was sie damit allerdings indirekt machen, ist die Kernidee der Menschenwürde infrage zu stellen, denn sie geben sich damit einer Debatte preis, die letztlich eine Verrohung des moralischen Diskurses bedeutet. Das sollten sie nicht länger tun. Ich finde, auch das ist ein Phänomen der Gegenwart und die Debatte am heutigen Abend hat doch skizziert, was da so schimmert, wenn wir nicht gegenhalten.
Weil ich auch der Meinung bin, dass solidarische Städte immer einen Gegenpol, einen demokratischen Gegenpol zum Rechtspopulismus bilden können, müssen wir doch alles tun, dass unsere Städte solidarisch sind. Das ist doch unsere Aufgabe, dem bestehenden Rechtsruck etwas entgegenzusetzen. Deswegen ist es gut, dass wir heute darüber diskutieren. Es wäre natürlich noch besser, wir hätten heute eine Entscheidung getroffen, dass Frankfurt zum sichern Hafen wird. Von daher, liebe Koalition, Sie tun der Humanität keinen Gefallen mit dieser Hänge- und Würgepartie, die sich hier über Monate hinzieht.
(Beifall)
Ich hoffe sehr, dass Sie in vier Wochen eine Entscheidung treffen, ansonsten trägt Ihr Verhalten natürlich dazu bei, dass die Rechtspopulisten sich noch gestärkt fühlen, weil hier nicht mit klarer und eindeutiger Stimme gesprochen wird, aber das ist notwendig, meine Damen und Herren.
(Beifall)
Ich bin der Meinung, dass die Europäische Union kolossal versagt, und weil sie versagt, müssen die Städte handeln, weil die Städte handeln können. Deswegen muss Frankfurt sich anschließen. Was ist denn so falsch daran, dass 60 Kommunen, liebe CDU, sich diesem Netzwerk angeschlossen haben, auch Städte wie München diskutieren es. Herr Dr. Kößler, Sie haben heute im Haupt- und Finanzausschuss – wirklich, das fand ich grundfalsch – plötzlich gesagt, es geht um einen neuen Verteilungsschlüssel, das ist falsch. Sie wissen es doch genau, dass es gar nicht darum geht, sondern darum, letztlich die Seenotrettung zu entkriminalisieren und ein Statement für die Demokratie zu setzen. Es hat nichts, aber auch gar nichts damit zu tun, den Königsteiner Schlüssel infrage zu stellen. Sie haben quasi versucht abzulenken, um Ihre nicht vorhandene Strategie darzulegen, warum Sie einfach nicht folgen können. Aber was Sie da gemacht haben, war sehr unredlich, das möchte ich Ihnen schon noch einmal sagen.
(Beifall, Zurufe)
Ja, ich komme zum Schluss. Es geht letztendlich um viel mehr als um Flüchtlingsschutz. In der ganzen Debatte geht es doch auch um die Frage, in was für einer Gesellschaft wollen wir denn eigentlich leben? Also müssen Menschenrechte uneingeschränkt gelten, müssen sie unverändert gelten oder stellen wir sie infrage? Da bin ich der Meinung, und vielleicht viele im Haus auch, Menschenrechte gelten aus guten, verdammt guten Gründen, uneingeschränkt, und das muss so bleiben. Wir dürfen keine Kategorien bilden, wir dürfen nicht plötzlich differenzieren zwischen Schutzsuchenden, denen wir Gutes wollen und anderen, die vielleicht nur Legitimation haben – nein, die Menschenwürde gilt für jeden Menschen. Es ist unsere Aufgabe, gerade weil wir privilegiert sind, sie auch wirklich durchzusetzen.
(Beifall)
Vielleicht ist es jetzt ein bisschen zu moralisch geworden, aber ich möchte doch noch daran erinnern …
(Zurufe)
… – ich weiß nicht, Sie finden es vielleicht lustig, mir ist es eine ernste Angelegenheit -, dass diese verbrieften Menschenrechte, über die ich jetzt gesprochen habe und die Ihnen allen ein Begriff sind, die wir auch ständig bei diversen Reden in der Paulskirche postulieren, irgendwann erkämpft wurden. Jahrhundertelang haben wir gekämpft, dass diese gelten. Letztlich bin ich auch privilegiert, weil Menschen dafür gekämpft haben, dass ich als Linker meine Meinung sagen kann, und es ist doch heute unsere Aufgabe, diese Menschenrechte zu verteidigen. Ich finde, wir sollten in Frankfurt damit anfangen, dass wir einfach sagen, Frankfurt wird ein sicherer Hafen und wir setzen damit ein Signal in so viele Richtungen, aber ich sage Ihnen, es geht in viele richtig gute Richtungen. Von daher, bitte treffen Sie hier die richtige Entscheidung in vier Wochen.
Vielen Dank!
(Beifall)
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