Die Realität fühlt sich seit dem 19. Februar 2020 an wie ein Albtraum

40. Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung am 27. Februar 2020

Tagesordnungspunkt 5: Entsetzen über Gewalt in Hanau – Konsens der Demokratinnen und Demokraten

Stadtverordnetenvorsteher Stephan Siegler:

Die nächste Wortmeldung kommt von Frau Ayyildiz von der LINKE-Fraktion. Bitte!

Stadtverordnete Merve Ayyildiz, LINKE.:

Sehr geehrter Herr Stadtverordnetenvorsteher!

Heute wende ich mich an alle Nicht‑Betroffenen, an die deutsch‑europäische Mehrheitsgesellschaft, an die durch ihr Aussehen, ihren Namen, ihre Zugänge zu niemals betroffenen Orten Geschützten, an die Mehrheit dieses Hauses. Ich muss das von der Mehrheitsgesellschaft geschaffene „wir“ und „ihr“ nutzen, um benennen zu können, worum es geht.

Ihr nicht Betroffenen, wir Betroffenen von rassistischer Gewalt. Wir leben jeden Tag mit dem Schmerz, mit der Diskriminierung, mit der Entmenschlichung, die von eurem System ausgeht. Es heißt Rassismus und ist ein menschengeschaffenes Mittel, um bestehende Macht- und Eigentumsverhältnisse täglich zu reproduzieren. Es ist ein System, dessen Existenz ihr leugnet und dessen ihr euch bedient, von dem ihr profitiert. Ihr verwendet euphemistische Abwandlungen, mit denen ihr euch davon befreit, und es als Phänomen isoliert von den gesellschaftlichen Zusammenhängen betrachtet, wenn Anschläge wie in Hanau passieren. Unsere Mitmenschen bezeichnet ihr als fremd. Rechten Terror bezeichnet ihr als Einzeltat. Ihr sprecht euch frei von jeder Verantwortung, die die Mehrheitsgesellschaft mitträgt. Ihr habt die Freiheit zu entscheiden, auf welche feige Art ihr wegschaut. Wir haben keine Wahl. Für uns gibt es kein „Weiter so“, als wäre nichts geschehen.

Wir sind auch nicht überrascht von dem rassistischen Anschlag. Es ist lediglich eine neue Stufe der Gewalt, der grausame Höhepunkt alltäglich erlebter Gewalt. Uns war auch klar, dass es nicht bei Hanau bleiben wird. Kaum ausgesprochen, wurde eine weitere Shisha‑Bar in Stuttgart beschossen und ein Gebäudekomplex in Döbeln in Brand gesetzt, zu dem eine Shisha‑Bar und ein Dönerladen gehören.

Anschläge wie diese reißen tiefe Wunden auf, die von eurem System täglich frischgehalten werden, durch strukturellen Rassismus und größer und tiefer gemacht werden durch jedes an die faschistische Ideologie und Gewalt verlorene Leben. Eure Ignoranz nimmt Morde billigend in Kauf.

(Beifall)

Ihr habt das Privileg, euch in Sicherheit zu wissen, da ihr nicht das Ziel rassistischer Anschläge seid. Doch Rassismus tötet uns. Habt ihr Angst, für uns, für eine friedliche Gesellschaft von uns allen einzustehen, weil ihr dann auch getroffen werdet, wie Walter Lübcke, oder seid ihr so fern von unserer Realität, dass es euch gar nicht interessiert? Die Realität fühlt sich seit dem 19. Februar 2020 an wie ein Albtraum. Es ist nicht die Frage, ob, sondern wann und wo wir als nächstes getroffen werden. Es ist nicht die Frage, wie, sondern ob dieser Staat und diese Gesellschaft jemals sich ihres selbst geschaffenen Problems annehmen werden. Rassismus ist gesellschaftlich und Teil eurer Spaltungspolitik. Wir erleben erneut einen Vertrauensverlust. Ihr werdet nicht dazu gezwungen, euch um eure Familien, Freunde und unbekannte Betroffene zu sorgen. Eure Kinder fragen euch nicht, wohin ihr auswandern sollt oder ob ihr als nächstes sterben müsst. Ihr fühlt den Terror nicht in der Brust jeden Tag. Ihr unterschätzt, was das für die Zukunft bedeutet.

Es tut weh, was passiert und jahrzehntelang konsequenzlos passieren konnte. Die NSU-Anschläge, der NSU-Prozess, der schändliche Umgang der Behörden, Medien und Politik mit den Angehörigen und darüber hinaus mit allen Betroffenen, das NSU-Urteil und die Vernichtung wie auch der Verschluss der Akten, das Schützen von Nazistrukturen, das Decken der Verantwortung des Verfassungsschutzes hat euch nicht jahrelang immer wieder traumatisiert und retraumatisiert. Ihr habt diesen Umgang über unsere Köpfe hinweg entschieden. Euer System demütigt uns. Es sind Worte von regierenden Politikerinnen und Politikern, die Schlagzeilen von Zeitungen, der rassistische normalisierte Sprachgebrauch im Alltag, die uns als Kategorie, als Zuschreibung, als ein von euch gezeichnetes Bild und nicht als gleichwertiger Mensch begreifen.

Die Wahrheit ist, dass wir nicht zusammenstehen. Die Wahrheit ist, dass es nicht ein Anschlag auf uns alle war, sondern ein Anschlag auf Unschuldige, auf uns Andersgemachte, auf uns als nicht zugehörig Markierte, auf uns als „Kanacken“ beschimpfte, auf uns Dehumanisierte, auf unseren von euch formulierten Migrationshintergrund, auf uns an Haar, Hautfarbe und Sprache kriminalisierte Menschen, auf uns kulturell und religiös Unterschiedene, auf uns strukturell Diskriminierte. Es war ein Anschlag auf People of Color, auf Schwarze Menschen, auf Sinti und Roma. Er hat bewusst auf Menschen geschossen, an deren äußerlichen Merkmalen er sie als anders, als nicht deutsch gelesen hat. Diese Lesart hat die deutsche Gesellschaft geschaffen. Sie nimmt uns nicht ernst. Um etwas dagegen zu tun, müsst ihr euren Blick hinterfragen. Ihr müsst uns zuhören. Ihr müsst uns ernst nehmen. Wir beherrschen eure Geschichten und unsere Geschichten mehr als ihr bereit seid, sie als deutsche Geschichte anzuerkennen, zu lernen und zu verstehen. Veränderung kann es nur geben, wenn unsere Perspektiven und unsere Kenntnisse der Ausgangspunkt antirassistischer Arbeit werden.

Die Morde des NSU, Mölln, Solingen, Chemnitz, Freital, Duisburg, Halle, Dresden, Kassel – alle nicht als rassistisch motiviert erfasste und nicht öffentlich skandalisierte, aber unter Betroffenen bekannte Fälle rechten Terrors sind deutsche Geschichte. Deutschland versagt, wenn es um uns geht. Es schützt nicht uns, sondern diejenigen, die uns töten. Derzeit stehen circa 500 Haftbefehle gegen Nazis offen. Es gibt circa 500 Gefährderinnen und Gefährder, 32.000 erfasste Nazis. Nazistrukturen existieren problemlos. Faschisten werden zu euren Talkshows eingeladen. Terrorzellen werden auf eine lächerlich geringe Ziffer reduziert, obwohl die rechten Netzwerke, die über Deutschland hinaus gut organisiert sind, in ganz Europa agieren, sich offen zeigen und uns bekannt sind. Polizei, Verfassungsschutz und Bundeswehr werden unterwandert. Sie planen gezielte Anschläge auf uns, haben Todeslisten, klauen Munition und Waffen, um Bürgerkriegszustände hervorzurufen. Der Faschist aus Hanau war nicht Teil einer Statistik. Die Dunkelziffer ist also höher als diese pervers hohe Zahl staatlich tolerierter Faschisten. Ab wie vielen Einzeltaten gesteht ihr das, was für uns glasklar ist? Shisha-Bars wurden von euch ebenfalls als kriminelle Orte betitelt. Dort wurden auch auf eure Anweisung hin Razzien durchgeführt. Shisha-Bars sind jedoch selbstgeschaffene Orte als Antwort auf euer System, auf Alltagsrassismus, der uns den Zugang zu euren Orten verwehrt. Es ist ein Schutzraum, in dem wir unsere Mehrfachzugehörigkeit ausleben können, ohne uns auf eure Einfachzugehörigkeit reduzieren zu müssen. Eure Antwort auf unsere Wunden ist der Ausbau der Strukturen, die uns gefährden, die uns bedrohen, stigmatisieren, die tödlich enden können und die Aufklärung verhindern. Wir brauchen ein Umdenken, ein aktives Leben von Demokratie.

Wir fordern unabhängige Melde- und Ermittlungsstellen, unabhängige Untersuchungsausschüsse, die sofortige Freigabe der NSU-Akten, denn der Verschluss schützt die Täter von gestern, heute und morgen. Wir fordern das Ende von Racial Profiling und der Kriminalisierung migrantischer Menschen und Orte. Wir leben hier, wir gehen nicht weg! Schluss mit kolonialem und rassistischem Sprachgebrauch. Wir wollen ein Leben ohne Angst in einer Gesellschaft ohne Abschiebung, denn Migration ist kein Verbrechen. Hier zu leben bedeutet noch, der Konsequenzlosigkeit ausgeliefert zu sein. Daher fordern wir ein würdevolles Gedenken, um ihre Namen zu nennen, zu kennen und ihre Geschichten zu wissen. Wir fordern Konsequenzen für Ferhat Unvar, 22 Jahre alt, für die zweifache Mutter Mercedes Kierpacz, 35 Jahre alt, für Kaloyan Velkov, 33 Jahre alt, für den Besitzer der Shisha-Bar des ersten Tatorts, Sedat Gürbüz, 30 Jahre alt, für Gökhan Gültekin, 37Jahre alt. Wir fordern Konsequenzen für Fatih Saraçoğlu, 34 Jahre alt, für Vili-Viorel Paun, 23 Jahre alt, für Hamza Kurtovic, 20 Jahre alt, für Said Nesar Hashemi, 21 Jahre alt, für die Würde, die Freiheit und die Unversehrtheit unseres fragilen Lebens.

(Beifall)

Hier können Sie die Rede als PDF-Datei herunterladen.

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