Wir wissen, bei welcher Gewalt Sie schweigen

Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung am 2. Juli 2020

Fragestunde zu Frage Nr. 2634: Corona-Kontrolle in der Griesheimer Ahornstraße

Stadtverordnetenvorsteher Stephan Siegler:

Frau Puttendörfer, Ihre Redezeit ist zu Ende.

(Beifall)

Die nächste Wortmeldung kommt von Frau Ayyildiz von der LINKE.‑Fraktion. Bitte schön!

Stadtverordnete Merve Ayyildiz, LINKE.:

Sehr geehrter Herr Stadtverordnetenvorsteher,

liebe CDU und FDP!

Es geht Ihnen nicht um diesen Einzelfall. Es geht Ihnen lediglich um eine Diskursverschiebung, um ein heuchlerisches Empathieverständnis, um Doppelmoral. Warum wird das jetzt erst Thema bei Ihnen, und nicht schon im Mai oder im Juni? In einer Zeit, in der wir endlich über strukturellen Rassismus und rassistische Polizeigewalt reden, in der Menschen lückenlose Aufklärung von über 160 Toten verlangen, die unter staatlicher Obhut gestorben sind, wie Oury Jalloh, an Händen und Füßen gefesselt, der in der Dessauer Polizeizelle verbrannte, oder Christy Schwundeck, die mit Hunger in das Jobcenter ins Gallus ist und nach dem Geld gefragt hat, das noch nicht auf ihrem Konto war, und ihr das verweigert wurde, was ihr zusteht, um dann von einer Polizistin erschossen zu werden. Dieses Land blutet, jeden Tag. Aber nicht die Polizistinnen und Polizisten, die sich bewusst für diesen Beruf, für die Uniform, für diese Berufsgefahr, für die Machtposition als Gewaltmonopol des Staates entschieden haben und jederzeit ihren Beruf wechseln könnten, nein, es bluten Menschen, die ihre sozialen Verhältnisse, ihre äußerlichen Merkmale, ihre traumatischen Erfahrungen nicht ablegen können, um sich vor Gewalt zu schützen.

Kommen wir zu dem Begriff der Gewalt, liebe CDU, gerne auch SPD und GRÜNE. Wir wissen, bei welcher Gewalt Sie schreien. Wir wissen, bei welcher Gewalt Sie schweigen, welche Gewalt Sie zu verantworten haben. Gewalt ist, zu hungern, obwohl es genug für alle gibt. Gewalt ist, zwangsgeräumt zu werden, weil die Miete steigt. Gewalt ist, so wenig Rente zu bekommen, dass ein Altern in Würde unmöglich ist. Gewalt ist Hartz IV, wenn ein Leben auf den Cent berechnet wird, du kein Geld sparen darfst und sanktioniert wirst. Gewalt ist, gezwungen zu werden, das Herkunftsland zu verlassen, da es mit deutschen Waffen, mit deutschem Militär, mit europäischer Kriegslust in Schutt und Asche gelegt wird. Gewalt ist auf dem Mittelmeer zu ertrinken, unterlassene Hilfeleistung bei Menschen in Not, in Seenot, in Lebensgefahr. Gewalt ist ein Abschiebebescheid. Polizistinnen und Polizisten, die dich mitten in der Nacht in Abschiebehaft nehmen und wie einen Schwerverbrecher behandeln. Gewalt sind EU-Deals und Kunstbegriffe wie sichere Herkunftsländer, menschengeschaffene Grenzen, illegale Push‑Backs an den EU‑Außengrenzen, Lebensumstände, die deine Würde jeden Tag infrage stellen. Gewalt ist das Schweigen der vielen, wenn Unrecht passiert und es dadurch erst ermöglicht wird. Gewalt sind rechtsterroristische Strukturen in Polizei, Bundeswehr, KSK, Drohbriefe, die mit NSU 2.0 unterzeichnet sind, in denen deine zweijährige Tochter abgeschlachtet werden soll, 1. Polizeirevier Frankfurt, hier um die Ecke.

Gewalt findet statt, wenn der Wohlstand der wenigen auf der systematischen Ausgrenzung und Ausbeutung der vielen aufbaut. Gewalt ist ein Knie im Nacken und vor den Augen der Welt zu sterben wie George Floyd, erschossen zu werden wie Breonna Taylor. Gewalt ist Teil dieses Systems, da es sich nur so wehren kann. Ich stehe konsequent gegen Gewalt und bin überzeugt davon, dass jeder Mensch in Frieden und Würde leben soll. Da brauchen aber Ihre Kriegsparteien uns nicht mit dieser Scheindebatte zu verarschen und euch als moralische Instanz zu erheben, denn diese Position habt ihr nicht.

 

Stadtverordnetenvorsteher Stephan Siegler:

Frau Ayyildiz, ich würde Sie darum bitten, eine passende Sprache für die Stadtverordnetenversammlung zu finden.

(Beifall)

Hier können Sie die Rede als PDF-Datei herunterladen.

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