47. Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung am 3. September 2020
Tagesordnungspunkt 6: Corona
Stellvertretende Stadtverordnetenvorsteherin Dr. Renate Wolter-Brandecker:
Vielen Dank, Herr Frischkorn! Die nächste Wortmeldung kommt von Herrn Müller von der LINKE.‑Fraktion. Bitte schön!
Stadtverordneter Michael Müller, LINKE.:
Frau Vorsteherin,
meine sehr geehrten Damen und Herren!
Das Gute an Corona ist ja, dass man zu allem und zu jedem etwas sagen kann. Aber ich möchte auch mit Herrn Mund beginnen. Was Sie gemacht haben, hat nichts mit Angst zu tun – lieber Herr Frischkorn, wie Sie gemeint haben -, sondern das ist berechnend. Es ist tatsächlich gefährlich, wenn Sie in einer Debatte über Corona behaupten, es würden keine Debatten mehr in der Politik stattfinden. Wenn Sie behaupten, es würden Entscheidungen jetzt durchgedrückt, wenn Sie gar behaupten, dass der Herr Oberbürgermeister im Fahrwasser von Corona, im Nebel von Corona, segeln könnte und irgendetwas nicht publik wird. Das ist genau das Niveau, das wir in Berlin am Wochenende hatten.
(Beifall)
Sie müssen sich klarmachen, dass Sie damit der Wegbereiter all derer sind, die auf den Stufen des Reichstags sitzen, ja, die Demokratie gefährden. Mit Ihrem Gerede rollen Sie diesen Menschen den roten Teppich aus. Was ich überhaupt nicht hinnehmen möchte, ist, wenn Sie dann nach diesem unsäglichen Gerede, nach diesem Gehetze, sage ich fast schon, bei dem Sie bewusst auch mit Ängsten von Menschen spielen, dann aber behaupten, Sie würden sich um die Nöte sorgen und dann mit Arbeitsmarktzahlen beginnen. Das ist unredlich. Sie sollten einmal überlegen, was Sie da machen, und Sie sollten wirklich darüber nachdenken. Sie machen sich zum Steigbügelhalter all derer, die das in Berlin begonnen haben, mit dem Sturm auf den Reichstag. Die Aushöhlung der Demokratie wird durch Reden, egal von welchem Pult, von welchem Podium aus, begünstigt, und das haben Sie heute wieder einmal versucht.
(Beifall)
Wenn wir jetzt über Corona reden, dann kommt mir in den Sinn: Abstand halten ist für uns im Frühling plötzlich intuitiv geworden, Hygieneregeln wurden Alltag. Es gab eine ganz große Rücksichtnahme in der Bevölkerung. Es wurde auch in der Rede des Oberbürgermeisters gesagt, der Schlüsselbegriff war Solidarität. Es gab plötzlich die Sorge um den Nächsten. Ich auch, Sie auch, man hat sich plötzlich wieder um Menschen Gedanken gemacht, die man schon lange nicht mehr angerufen hat. Ja, das Virus hat etwas verändert. Es wird weiter etwas verändern. Was aber auch deutlich wurde, dass plötzlich das Private eine bestimmte Rolle bekommen hat. Wenn Sie sich überlegen, wie Hannah Arendt das Private definiert, nämlich mit der Abwesenheit des anderen. Privatheit bedeutet immer, dass es ein Schutzraum von Gleichgesinnten ist. Dann ist es aber auch so: Das Gegenteil von Privatheit ist Öffentlichkeit. Jede Gesellschaft braucht sowohl das Private als auch das Öffentliche. Ich glaube, wir haben eine große Gefahr, dass das Öffentliche während Corona verloren geht. Es geht verloren dadurch, dass wir uns nicht mehr sehen, nicht mehr treffen, nicht mehr in Kneipen gehen, keine Musik mehr erklingt, dass wir hier und nicht im gewohnten Raum tagen müssen. Wenn aber das Öffentliche verloren geht, dann droht auch viel von unserer Demokratie, von unserem Gemeinwesen verloren zu gehen.
Was auch richtig ist, wenn wir über Solidarität reden, wie der Herr Oberbürgermeister, müssen wir uns alle eingestehen, dass Solidarität an Bedingungen geknüpft ist. Solidarität gibt es nicht bedingungslos. Deswegen kann die Solidarität auch entzogen werden. Das ist die große Herausforderung, dass die Solidarität der Gesellschaft, die im Frühling greifbar war, entzogen wird, wegbricht. Ich bin der Meinung, wir brauchen die Solidarität jetzt noch viel nötiger als im Frühjahr. Das hat mehrere Gründe. Grund eins: Die Pandemie ist nicht weg. Grund zwei: Das Virus bleibt. Aber was viel gravierender ist, die ökonomischen, die persönlichen, die sozialen Folgen dieser Pandemie kommen jetzt erst. Dann wird die Solidarität notwendiger denn je sein. Wir müssen als politische Entscheidungsträger schauen, dass wir diese Solidarität behalten, dass die Menschen sich nicht abwenden.
Ich komme zurück zu Berlin. Da erleben wir den Entzug von Solidarität. Reden wie von Herrn Mund tragen dazu bei, dass Solidarität verloren geht. Wenn sie einmal verloren gegangen ist, kommt sie nicht mehr zurück, und wir brauchen sie dringender denn je, weil – das wurde auch schon gesagt – die Zahl der Arbeitslosen in Frankfurt im August um 55 Prozent im Vergleich zum Jahr zuvor angestiegen ist. Das ist ein drastischer Anstieg. Auch die Zahl derer, die auf Hartz IV angewiesen sind, hat sich erhöht. Wenn ich jetzt einmal zitieren darf, der Chef der Agentur für Arbeit hier in der Region sagt: „Wer jetzt arbeitslos wird oder bereits ist, hat es deutlich schwerer, überhaupt wieder Fuß zu fassen.“ Wir haben die große Gefahr, dass viele permanent wegbrechen. Was auch deutlich ist, dass nicht jeder gleich von Arbeitslosigkeit betroffen ist. Es sind die unter 25-Jährigen – plus 25 Prozent. Es sind die Menschen ohne deutschen Pass – plus 40 Prozent. Sehen Sie, was da gesellschaftlich passiert, welche Sprengkraft das hat? Deswegen müssen wir darauf jetzt reagieren, um der Solidarität Willen muss die Politik Maßnahmen ergreifen. Wir schlagen als LINKE zum Beispiel vor, eine Vier-Tage-Woche einzuführen, die Verkürzung der Wochenarbeitszeit als ein Mittel, die Krise zu bewältigen.
(Beifall)
Wir sagen aber auch, dass viel mehr ergriffen werden muss. Der Niedriglohnsektor ist das größte Problem, der muss behoben werden. Es gibt Forderungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes, die jetzt an uns adressiert wurden, für die anstehende Wahl. Lesen Sie diese, da steht viel Richtiges drin, wie wir der Krise begegnen können. Denn Corona wirkt wie ein Brandbeschleuniger der sozialen Spaltung. Es vertieft Gräben, die jetzt schon da sind, und – ich komme zum zweiten Teil, den ich sagen möchte – das zeigt sich besonders im Bildungsbereich. Wir haben viel über Bildung gesprochen. Aber ich habe mir dann einmal die Frage gestellt: Waren denn alle Kinder gleich betroffen vom Lockdown? Natürlich nicht. Es gab die Eltern, die Laptops hatten. Es gab die Eltern, die konnten Homeschooling machen. Aber denken Sie doch einmal, wie sich die Kinder fühlen mussten, deren Eltern ihnen nicht helfen konnten, die keine Notebooks oder Laptops hatten, vielleicht sogar nicht einmal Internet. Das ist leider so, dass nicht jeder Haushalt Internet hat. Das kostet auch Geld.
Wir sehen, im Bildungsbereich manifestiert sich auch die soziale Spaltung. Ich habe noch eine Minute Redezeit, die werde ich auch nutzen, Frau Vorsteherin. Deswegen müssen wir jetzt die Weichen im Bildungsbereich zu mehr Bildungsgerechtigkeit stellen. Wir müssen Kinderarmut und Elternarmut bekämpfen. Wir müssen deutlich machen, dass wir jetzt im Bildungsbereich nachlegen. Ein Punkt ist noch ganz einfach. Wir müssen mehr Busse einsetzen, zum Beispiel bei der Schulbeförderung. Es macht wenig Sinn, wenn Kinder in übervollen U-Bahnen sitzen und dann aber in einem Klassenzimmer wieder getrennt werden sollen. Verdichten Sie den Takt, sorgen Sie dafür, dass mehr U‑Bahnen eingesetzt werden. Das fordert auch der Frankfurter Elternbeirat. Das fordern viele Initiativen. Es gibt genügend Maßnahmen, die zu mehr Solidarität führen, die die soziale Spaltung versuchen einzuebnen. Wir sollten diese Mittel alle ergreifen, weil das Virus uns begleitet. Es ist natürlich nicht weg. Ich glaube, dass wir uns in Zukunft deutlich mehr damit beschäftigen müssen, die soziale Spaltung, die Gräben, die da sind, zuzuschütten. Dazu brauchen wir vor allem Solidarität.
Vielen Dank!
(Beifall)
Hier können Sie die Rede als PDF-Datei herunterladen.