5. Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung am 05. August 2021 – TOP 7 Wahl Bürgermeister*in
Stadtverordnete Dominike Pauli, LINKE.:
Sehr geehrter Herr Stadtverordnetenvorsteher,
sehr geehrte Damen und Herren!
Also, Herr Kößler, ich habe eben kaum meinen Ohren getraut. Alles das, was Sie als
fehlend moniert haben, dafür hätten Sie 30 Jahre Zeit gehabt, mehr als 30 Jahre, um einen Bruchteil davon durchzusetzen. Und? Nichts, gar nichts.
(Beifall)
Meine Damen und Herren, jetzt ist die Kommunalwahl ein halbes Jahr her und schon
wählen wir hier den neuen Magistrat. Chapeau, meine Damen und Herren von
GRÜNEN, SPD, FDP und Volt, Sie haben die letzte Koalition in Sachen Langwierigkeit und Holprigkeit zumindest in diesen Punkten schon einmal übertroffen. Die Arbeit kann aufgenommen werden, spät genug und dringend genug ist es. Es gibt viel zu tun in Frankfurt. Das haben Sie auch selbst schon gesagt und nun müssen Sie beweisen, dass Sie es wirklich anpacken und vor allem auch besser machen. Ich bleibe da skeptisch. Das
ist auch meine Rolle als Opposition. Skeptisch gemacht hat mich auch der Bericht
aus der konstituierenden Sitzung des Ausschusses für Controlling und Revision. Laut
diesen Berichten war sich Ihre Koalition weder über Gegenstand noch Ausrichtung und Verweildauer einig. Dass die GRÜNEN nicht wollen, wie von der SPD vorgeschlagen, dass sich dieser Ausschuss dauerhaft und intensiv unter anderem mit der Überprüfung der Einnahmen und Ausgaben der Stadt, den Verwendungsnachweisen und Finanzberichten beschäftigen soll, ist mindestens befremdlich. Und warum, liebe GRÜNE, wollt ihr
bei diesem wichtigen Thema die Ausschussinhalte unter Ausschluss der Öffentlichkeit
verhandeln? Also wenn das jetzt die versprochene neue Transparenz sein soll, das verspricht nicht viel Gutes für die Zukunft, und vor diesem Hintergrund, Frau Zapf Rodriguez, finde ich auch Ihre angekündigte beteiligungsorientierte Sozialpolitik ziemlich interessant und bin einmal gespannt, wie Sie das im Einzelnen definieren. Unterm Strich bleibt der Eindruck, dass was lange währt, auch nicht immer endlich gut wird. Anscheinend ist mit dieser Koalition der Dauerstreit scheinbar offizielles Regierungsprogramm. Ich will für die Stadt hoffen, dass Sie das geregelt kriegen und dass Sie insgesamt in konstruktivere Fahrwasser miteinander geraten. Denn ich bin besonders als LINKE., wie Sie sich vorstellen können, beunruhigt in allen und bei allen sozialpolitischen Fragen. Denn Sie, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, haben sich auf Frankfurt-Ebene bei der Auswahl zwischen Modell Lindner, hier vertreten von Annette Rinn und Stephanie Wüst, und der sozialpolitisch orientierten LINKEN. leider für das Modell Lindner entschieden. Also für ein Modell, das sozialpolitisch darwinistisch orientiert ist und auch ansonsten möglichst gerne viel privatisiert, von Eigenverantwortung spricht und immer noch der längt widerlegten Ansicht, der Markt würde alles aufs Beste regeln, anhängt. Tut er nicht, siehe Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Von alleine regelt sich überhaupt nichts, das gilt auch für die Verkehrswende. Die kriegen wir so nicht hin mit einem lustlosen Interimsdezernenten. Wir sind jetzt gespannt, ob und wie Sie mit der sozialen darwinistischen FDP und den unerfahrenen Leuten von Volt eine Sozialpolitik betreiben wollen oder können, die die Spaltung, die Klassenunterschiede überwinden kann. Natürlich, meine Damen und Herren, gibt es in Frankfurt sehr viele Menschen, denen es wirtschaftlich gut geht, keine Frage. Für die wurde in den letzten Jahrzehnten auch vorrangig Politik gemacht unter kräftiger Mithilfe der GRÜNEN. Aber es gibt genauso viele Menschen in Frankfurt, die wenig Geld,
dafür aber viele Probleme haben.
Ich zitiere nur ein paar Beispiele: Transferleistungsbezieherinnen und -bezieher, Seniorinnen und Senioren mit Kleinstrenten, Prekär- und Teilzeitbeschäftigte, die meisten Alleinerziehenden und so weiter. Für die sind die extrem hohen Fahrpreise und ein unzulänglich ausgebauter ÖPNV ein Problem. Es gibt immer weniger Wohnungen mit Sozialbindungen. Wohnen insgesamt ist zu teuer. Auch das sind große Probleme. Dass die medizinische Versorgung zum Beispiel mit Fachärzten immer mehr aus den ärmeren Stadtteilen verschwindet und sich stattdessen vermehrt in Bezirken ansiedelt, in denen überwiegend wohlhabendere Klientel lebt, ist auch ein Problem. Noch ein Beispiel: Bei sozialen Trägern werden immer noch nicht die tariflichen Lohnsteigerungen der letzten Jahre ordentlich refinanziert, weshalb immer noch viele Angebote, zum Beispiel im Bereich Jugendarbeit, reduziert oder eingestellt werden müssen. Ich möchte Ihnen dazu Nicole Mayer-Ahuja, Professorin für Soziologie von Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft an der Universität Göttingen, und Oliver Nachtwey, Professor an der Universität Basel, zwei Wissenschaftler, die sich mit diesem Prozess beschäftigt haben, zitieren. Ich zitiere aus der Nummer neun der Blätter für deutsche und internationale Politik dieses Jahres: „Deshalb müssen wir über Dynamiken der Klassengesellschaften sprechen, also über die Scheidelinie zwischen Kapital und Arbeit, aber auch über die vielfältigen Gräben, welche die immer weiter wachsende Gruppe der abhängig Beschäftigten und allein Selbstständigen durchziehen, die eben kein Kapital besitzen, und deshalb vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben müssen.“
Das, meine Damen und Herren, ist der Kern wirklich linker zukunftsorientierter Sozialpolitik. Wie wichtig das ist, hat sich durch Corona noch einmal bitter bestätigt. Aber ich fürchte, mit weiten Teilen in dieser Koalition ist so etwas nicht zu machen.
Ich befürchte, dass die Segregation noch verstärkt wird. Noch ist auch überhaupt nicht absehbar, was genau aus Ihrem Koalitionsvertrag realisiert werden kann, vor allem auch, weil niemandem klar ist, immer noch nicht, woher das Geld dafür kommen soll. Aber eines wissen wir jetzt schon, dass Sie wahrscheinlich nicht sehr schnell arbeiten werden.
Zum Schluss möchte ich Ihnen gerne noch ein weiteres Zitat der schon erwähnten Professoren mitgeben, besonders auch, weil hier der Begriff „wirtschaftliche Bürgerrechte“ eingeführt wird, den wir von der LINKEN. für wichtig halten: „Wirtschaftliche Bürgerrechte müssen auch das Leben von Arbeitenden außerhalb der Erwerbssphäre regulieren. Sie sollten ein Moratorium für Mietensteigerungen und einen garantierten Zugang zu Strom, Wasser und Internet festlegen. All das wären Elemente“ – jetzt erschrecken Sie nicht – „eines Infrastruktursozialismus, der für Arbeitende insgesamt und gerade auch für die verkannten Leistungsträgerinnen und Leistungsträgern unter ihnen deutlich bessere Bedingungen schaffen kann, sich ohne Existenzangst für ein Arbeiten und Leben in Würde einsetzen.“ Damit würden wir noch nicht die Klassengesellschaft überwinden, es wäre aber ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Vieles davon könnte eine Kommune, noch dazu eine so reiche wie Frankfurt, mit einer progressiven Sozialpolitik gut leisten und damit eine solidarische Stadtgesellschaft, von der auch Frau Zapf-Rodriguez gesprochen hat, für alle anstreben. Ob diese Koalition es trotz FDP und Volt schaffen wird, wenigstens Schritte in diese Richtung zu gehen, bleibt offen. Wir werden die Dezernentinnen und Dezernenten an ihrem Handeln und dann an Ergebnissen messen und wo immer sie versagen, den Protest dagegen unterstützen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
(Beifall)