Kürzungen bei Kindern und Jugendlichen sind grundfalsch!

8. Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung am 9. Dezember 2021

 

 

Stadtverordneter Michael Müller, LINKE.:

 

Vielen Dank, Herr Vorsteher!

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Ja, wir haben die Vorlage M 170, Wirtschaftsplan des Eigenbetriebs Kommunale Kinder-, Jugend- und Familienhilfe, auf die Tagesordnung I gesetzt, ein wichtiges sozialpolitisches Thema, aus zwei Gründen: Zum einen sind wir der Meinung, dass das Angebot für die Kinder und Jugendlichen in Frankfurt in Zukunft wichtiger denn je wird aufgrund der Einschränkungen durch die Coronapandemie, zum anderen, weil wir schon auch befürchten, dass die Kommunale Kinder-, Jugend- und Familienhilfe künftig nicht ausreichend und adäquat finanziert sein wird. Unserer Meinung nach ist das Gegenteil notwendig, eine Ausweitung der kommunalen finanziellen Mittel für die Frankfurter Kinder- und Jugendhilfe, die sich am tatsächlichen Bedarf orientiert.

 

Ich möchte jetzt auch ein bisschen den Bogen spannen zu dem drängenden momentanen gesellschaftspolitischen und auch wirklich epochalen Problem, nämlich der Coronapandemie und den damit verbundenen Einschränkungen. Eine Plenarsitzung kurz vor Weihnachten vor dem Hintergrund der vierten Welle muss sich, finde ich, auch mit dieser Thematik beschäftigen. Von daher war es uns wichtig, das auf die Tagesordnung I zu setzen. Uns geht es in diesem Punkt um die Kinder und Jugendlichen, die unserer Meinung nach besonders unter den Einschränkungen der Coronapandemie leiden und bereits jetzt schwerwiegende Folgen davontragen. Zum einen sind es Lernrückstände, da erzähle ich Ihnen wahrscheinlich nichts Neues, andererseits auch körperliche Folgen, motorische Störungen, Bewegungsmangel. Auch etwas, das sehr schwierig und schlimm ist, sind die sozialen Folgen durch fehlende zwischenmenschliche Beziehungen und Erfahrungen, die diese jungen Menschen machen. Das Ganze führt zu psychischen Folgen wie Vereinsamung, Angststörungen, Depressionen, gar Suizid.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist so. Eine ganze Generation wächst aktuell unter Umständen auf, die wir uns vor zwei Jahren gar nicht haben vorstellen wollen, als wir mit der Pandemie konfrontiert wurden. Deshalb ist es richtig, wenn die Caritas Deutschland Alarm schlägt und sagt, ich zitiere: „Angst, Einsamkeit, Depressionen, Ess- und Schlafstörungen und Suizidalität – fast jedes dritte Kind leidet enorm unter den Folgen der Coronapandemie und zeigt psychische Auffälligkeiten.“ Weiter fordert die Caritas: „Es geht um niedrigschwellig erreichbare Hilfe. Die Angebote der Erziehungs-, Familien-, Lebens- und Migrationsberatung sowie der Jugendberatung müssen gesichert und ausgebaut werden.“ Meine Damen und Herren, sie müssen gesichert und ausgebaut werden. Deswegen ist es auch der Auftrag, den wir als Stadt Frankfurt haben, genau dieser Maßgabe zu entsprechen. Wenn dann immer häufiger von der „verlorenen Coronageneration“ gesprochen wird, glaube ich tatsächlich, dass ein solcher Stempel dieser Komplexität und der Wirklichkeit und dem Alltag in Familien, in Klassenzimmern, in Kitas und Krippen überhaupt nicht gerecht wird. Wenn wir von der Coronageneration reden, klingt das oft so wie Generation X, Y, Z, aber nein, das ist etwas ganz anderes.

 

Man muss auch sagen, dass es gerade die Kinder und Jugendlichen waren, die in den letzten zwei Jahren versucht haben, sich selbst über Wasser zu halten, aber was auch einmal gesagt werden muss, ist, dass es die Kinder und Jugendlichen waren, die doch relativ rasch vorbildlich Solidarität geübt haben für die Generation ihrer Eltern und vor allem ihrer Großeltern. Eine ganze Generation ist vielleicht viel zu schnell erwachsen geworden, meine Damen und Herren. Diese Generation braucht unsere Unterstützung. Es kommt eine riesige Aufgabe auf uns als Stadtgesellschaft zu. Die Pandemie ist noch lange nicht vorbei, die Folgen werden uns beschäftigen. Deswegen braucht es ein umfangreiches, gut ausgebautes Hilfskonstrukt in Frankfurt am Main.

 

Jetzt komme ich zurück auf die Vorlage M 170. Wenn man die ganz genau liest, dann kann man daraus schon ablesen, dass es einen hohen Mehrbedarf gibt, und ich verlange auch vom künftigen Magistrat für die nächsten Haushaltsberatungen, dass der Mehrbedarf abgedeckt wird, dass es nicht zu Einsparungen in diesem essenziell wichtigen sozialen Bereich kommt, deswegen heute schon die Rede von uns. Kürzungen bei Kindern und Jugendlichen sind grundfalsch. Sie waren schon immer falsch, und sie sind jetzt vor dem Hintergrund des Szenarios, das ich Ihnen skizziert habe, natürlich doppelt falsch und wären grob fahrlässig. Wir müssen gemeinsam alles daransetzen, dass das verhindert wird.

 

Ich erinnere jetzt die Regierung an ihren Koalitionsvertrag. Da schreiben Sie hinein: „Die Infrastruktur der offenen Kinder- und Jugendarbeit werden wir in dieser Stadt ausbauen.“ Daran werden wir Sie als linke Opposition natürlich ständig erinnern. Ich frage auch heute schon: Stehen Sie zu diesem Satz? Wird er auch den nächsten Haushaltsberatungen standhalten?

 

Die freien Träger der offenen Kinder- und Jugendarbeit protestieren auch schon lange – seit Jahren. Ihr Protest blieb weitestgehend ungehört. Wir als LINKE. waren eigentlich immer die Einzigen, die sich solidarisch gezeigt haben. Die vergangene Sozialdezernentin hat es eigentlich kaum für nötig erachtet, sich mit der Thematik zu beschäftigen. Von daher frage ich Sie jetzt auch: Wie werden Sie sich dazu positionieren? Werden Sie das Sprachrohr der Kinder und Jugendlichen im Magistrat sein, Frau Voitl, und werden Sie auch auf die Nöte und Bedürfnisse der offenen Kinder- und Jugendarbeit eingehen?

 

Ich möchte zu einem zweiten Punkt kommen, der in dem Zusammenhang erwähnt werden muss. Ich finde es auch bemerkenswert, was Sie in einem Interview gesagt haben, nämlich, dass Sie sich des Themas Kinderarmut annehmen wollen. Das finde ich gut. Es ist nämlich mehr als notwendig, weil Kinderarmut ein zentrales gesellschaftliches Versagen ist und eine reiche Stadt wie Frankfurt, die Kinderarmut nicht thematisiert und schon gar nicht Maßnahmen ergreift, sie zu beheben, etwas grundfalsch macht. Deswegen reicht es auch nicht, wenn wir uns hier einmal abfeiern für den Millennium Tower, der noch gebaut wird mit 300 Metern Höhe, gleichzeitig aber ausblenden, was im Schatten dieser Türme eigentlich passiert. Das muss Thema werden in dieser Stadt und wir müssen es immer zum Thema machen. Es darf nicht ausgeblendet werden und es muss eine zentrale Rolle spielen. Deswegen ist es auch wichtig, dass wir uns mit Kinderarmut beschäftigen. Die Gegensätze zwischen Arm und Reich, das klingt jetzt plakativ, vielleicht hört mancher gar nicht mehr zu, werden zunehmen als Folge der Pandemie, und wir als LINKE. wollen diese Gegensätze überwinden. Es muss unsere Aufgabe sein, dass es nicht zu einer wachsenden Spaltung kommt, sondern dass diese Spaltung überwunden wird. Erzählen Sie mir nichts Neues, Frankfurt ist in dieser Frage eine gespaltene Stadt.

 

Die Frankfurter Armutsforscherin ‑ vielleicht kennt sie jemand, Frau Dr. Sabine Andresen – der Goethe‑Uni hat gesagt, ein gesundes Aufwachsen ist das Recht eines jeden Kindes. Dieses Recht, sagt sie, werde millionenfach in diesem Land – auch in dieser Stadt – gebrochen. Es ist ein Skandal, sagt Frau Dr. Andresen, dass sich die Politik in den letzten Jahren dafür viel zu wenig interessiert hat. Sie fordert eine Politik, die sich konsequent an den Bedarfen der Kinder orientiert. Das muss eingefordert werden. Ich möchte Ihnen jetzt noch ein paar Zahlen nennen, und da lohnt ein Blick in den Konzernabschluss des Jahres 2020. Da steht nämlich drin, dass wir Ende 2020 35.500 Bedarfsgemeinschaften nach SGB II in Frankfurt hatten. Dahinter stecken Menschen. Wenn man sich dann aber anschaut, was im Mai 2021 passiert ist – wir sind mitten in der Pandemie, die ist nicht vorbei, sondern immer noch da -, da hatten wir 37.000 Bedarfsgemeinschaften. Die Zahl nimmt zu und wird weiter zunehmen, wenn wir nicht gegensteuern.

 

Was auch wirklich erschreckend für mich war, war, dass 19.000 Kinder unter 15 Jahren in diesen prekären, armen Verhältnissen leben müssen. Das muss uns wachrütteln. Da müssen wir etwas dagegen machen. Da müssen wir gegensteuern. Deswegen bin ich auch gespannt, ob von der Koalition, die immer Prioritätenlisten formuliert hat, die im Koalitionsvertrag drinstehen, die Bekämpfung der Armut auch oberste Priorität bekommt.

 

Herr Kollege Ritter, bleiben Sie einmal stehen. Wenn Sie hier vor dem Hintergrund der sozialen Schieflage tatsächlich wieder eine Senkung der Gewerbesteuer in den Mund nehmen, dann kann ich das nicht nachvollziehen. Das vertieft die soziale Spaltung, weil Sie damit nämlich die Einnahmen der Stadt reduzieren.

 

(Zurufe)

 

Nein, das Gegenteil ist nicht richtig. Wenn Sie die Einnahmen der Stadt Frankfurt nicht erhöhen, werden Sie die sozialen Probleme nicht in den Griff bekommen, von daher handelt die FDP in dieser Koalition fahrlässig. Sie ist der soziale Bremsklotz, und das werden wir Ihnen und euch jederzeit wieder unter die Nase reiben.

 

Ich komme jetzt langsam zum Schluss. Ich freue mich auf die Debatte und hebe meine Redezeit für eine etwaige Intervention auf.

 

Vielen Dank!

 

(Beifall)

 

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