Die Stadtverordnetenversammlung möge beschließen:
Der Magistrat wird gebeten, der städtischen Beteiligungsgesellschaft VGF über die Stadtwerke Frankfurt am Main Holding GmbH und traffiQ die gesellschaftsrechtliche Weisung zu erteilen, auf die Stellung eines Strafantrags bei Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs ohne Fahrschein zu verzichten. traffiQ, die den Fahrausweisprüfdienst für den Bereich Bus zentral organisiert, soll diese Weisung gegenüber dem, nach einem öffentlichen Vergabeverfahren mit der Durchführung des Prüfdienstes auf den städtischen Buslinien betrauten, externen Dienstleister ausführen. Die Regelungen zum erhöhten Beförderungsentgelt bleiben hiervon unberührt.
Begründung:
Die Haftstrafe ist das härteste Mittel, das einem Rechtsstaat zur Verfügung steht. Sie stellt in Deutschland die letzte Konsequenz dar. Aber nicht nur Menschen, die wegen Raub, Mord oder Totschlag verurteilt wurden, sitzen im Gefängnis – auch Tausende Menschen, die kein Geld haben, um sich ein Ticket für Bus oder Bahn zu kaufen.
Für Nutzung von Bus und Bahn ohne gültigen Fahrschein wird ein erhöhtes Beförderungsentgelt erhoben. Darüber hinaus ist das Erschleichen von Beförderungsleistungen gemäß § 265a StGB eine Straftat. Allerdings wird diese Straftat bei Geringwertigkeit gemäß §248a StGB nur auf Antrag verfolgt. Die Grenze der Geringwertigkeit liegt bei 25 bis 50 Euro. Eine Fahrt ohne Fahrschein mit Bus oder Bahn im Frankfurter Stadtgebiet wird also wohl immer darunterliegen. Ebenfalls liegen drei Fahrten darunter – die Schwelle zur Stellen eines Strafantrags gemäß Regelungen des RMV. Folglich ist nach § 265a Abs. 3 i.V.m. § 248a StGB zur Strafverfolgung in der Regel ein Antrag erforderlich. Die Verhängung von Strafen für Fahren ohne Fahrschein führt häufig zu Ersatzfreiheitsstrafen anstelle von Geldstrafen, da insbesondere ärmere Menschen armutsbedingt häufiger das entsprechende Delikt begehen und die verhängten Geldstrafen nicht zahlen können. Gemessen am angerichteten Schaden ist dies eine unverhältnismäßig schwere Bestrafung.
Das Fahren ohne Fahrschein ist ein Armutsdelikt. Ein Großteil der Betroffenen ist arm, leidet an psychischen und sozialen Krisen. Die meisten, die eine Ersatzfreiheitsstrafe wegen Fahrens ohne Fahrschein absitzen, sind arbeitslos, jede*r Dritte suchtkrank und mehr als ein Achtel obdachlos. Die Betroffenen sind mit dem erhöhten Beförderungsentgelt und ihrer oftmals ohnehin prekären Lage gestraft genug.
Gleichzeitig belasten die Vielzahl an Verfahren die Gerichte und Staatsanwaltschaften. Der ehemalige hessische Justizminister Roman Poseck (CDU) bekannte 2022, die strafrechtliche Verfolgung von Menschen, die ohne Fahrschein fahren, binde „erhebliche und eben möglicherweise auch unverhältnismäßige Ressourcen“[1]. Auch eine Studie hat mittlerweile geschätzt, dass die Bundesrepublik jedes Jahr etwa 114 Millionen Euro aufwendet, um das Fahren ohne Fahrschein zu verfolgen, zu verurteilen und die Urteile zu vollstrecken. Die Zahl verdeutlicht, welche erhebliche Kapazitäten die Strafverfolgung des § 265a StGB bindet[2].
Neben rechtstheoretischen Argumenten wird so vornehmlich die Entlastung der Justiz als positiver Effekt angeführt. Es gibt eine breite Debatte über die Sinnhaftigkeit des Status als Straftat. Bundesjustizminister Buschmann (FDP) hat für 2023 eine Prüfung der Herabstufung zu einer Ordnungswidrigkeit angekündigt. Noch ist aber auf Bundesebene nichts geschehen. Doch zehn deutsche Städte – Bremen, Bremerhaven, Dresden, Düsseldorf, Halle, Karlsruhe, Köln, Mainz, Münster, Potsdam und die hessische Landeshauptstadt Wiesbaden – haben das Fahren ohne Fahrschein bereits faktisch entkriminalisiert, in dem darauf verzichtet wird, Strafanträge zu stellen.
Es handelt sich nicht um Einzelfälle: Die Gesamtzahl der Strafanträge nach § 265a StGB im Frankfurter Nahverkehr durch die VGF betrug 2021: 4.286, 2022: 3.233 und 2023: 3.927.[3] Die Gesamtzahl der gestellten Strafanträge nach § 265a StGB für den Bereich Bus lag in 2021 bei 267, in 2022 bei 486 und 2023 bei 469 Fällen.[4] Für das Jahr 2023 ist folglich insgesamt vom 4.396 Strafanträgen auszugehen.
Die Regelungen zum erhöhten Beförderungsentgelt und zivilrechtlichen Ansprüche bleiben unberührt.
Der Magistrat hat im Bericht B270 formuliert, dass das Vorgehen, auf Anzeigenerstattung bei Fahren ohne gültigen Fahrschein vollständig zu verzichten, wünschenswert sei. Angesichts der Bemühungen der Stadt Frankfurt, wirksame Maßnahmen zur Armutsbekämpfung zu ergreifen, wäre der Verzicht auf Anzeigenerstattung bei Fahren ohne gültigen Fahrschein ein unumgänglicher Schritt. Die Zurückhaltung des Magistrats aufgrund der Sorge vor Uneinheitlichkeit von Regelungen innerhalb des RMV kann nicht nachvollzogen werden – gerade hat erst die VGF unabhängig vom RMV ein Mitnahmeverbot von E-Tretrollern in U- und Straßenbahnen der VGF verkündet.
Die Linke im Römer
Dominike Pauli und Michael Müller
Fraktionsvorsitzende
Antragstellende:
Stv. Ayse Dalhoff
Stv. Dominike Pauli
Stv. Daniela Mehler-Würzbach
Stv. Eyup Yilmaz
Stv. Michael Müller
Stv. Monika Christann
[1] „Justizminister zeigt sich offen für Straffreiheit für Schwarzfahrer, Artikel auf hessenschau.de vom 11.10.2022, https://www.hessenschau.de/politik/hessens-justizminister-zeigt-sich-offen-fuer-straffreiheit-fuer-schwarzfahrer-v1,poseck-schwarzfahren-100.html
[2] Bögelein, Nicole / Wilde, Frank: Der Rechtsstaat und das Fahren ohne Fahrschein (§ 265a StGB) – Was kostet die Verfolgung eines umstrittenen Straftatbestands?, in: Kriminalpolitische Zeitschrift 5/2023, online: https://kripoz.de/wp-content/uploads/2023/09/boegelein-wilde-fahren-ohne-fahrschein-was-kostet-die-verfolgung-eines-umstrittenen-straftatbestands.pdf
[3] Antwort des Magistrats auf Frage F 2474 vom 06.06.2024
[4] Antwort des Magistrats auf Frage F 2578 vom 04.07.2024